- Rotes Kreuz: Der Schutz des Lebens im Krieg
- Rotes Kreuz: Der Schutz des Lebens im KriegDie Rotkreuzbewegung entstand in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mit dem Krimkrieg von 1853 bis 1856 und mit dem Krieg Sardinien-Piemonts und Frankreichs gegen die habsburgische Herrschaft in Oberitalien von 1859 sich in Europa eine neue kriegerische Periode ankündigte. Infolge völlig unzureichender hygienischer und medizinischer Versorgung durch die überforderten Sanitätsdienste der Heere starben in beiden Kriegen unzählige Soldaten an ihren Verwundungen, an Seuchen und Epidemien. So blieben nach der Schlacht von Solferino 1859 rund 40 000 verwundete und kranke Soldaten auf dem Feld zurück, denen der Genfer Bürger Henry Dunant mit Unterstützung der Bevölkerung zu helfen versuchte.Entsetzen über das Leid - Dunants Aufruf zu helfenIn seiner im Jahre 1861 erschienenen Schrift »Eine Erinnerung an Solferino« rief Dunant dazu auf, Organisationen zu gründen, die den Verwundeten und Kranken schnelle Hilfe bringen könnten. Nötig seien »freiwillige Wärter und Wärterinnen, die im Voraus ausgebildet, geschickt und mit ihrer Aufgabe vertraut sind. .. Wäre es nicht wünschenswert, dass die hohen Generäle irgendeine internationale rechtsverbindliche Übereinkunft treffen, die. .. als Grundlage dienen könnte zur Gründung von Hilfsgemeinschaften für Verwundete in den verschiedenen Ländern Europas?« Als Träger und Motor dieser Forderungen konstituierte sich am 17. Februar 1863 aus der Genfer Bürgerschaft ein Aktionskomitee, das seit 1875 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt.Die weitere Entwicklung verlief ungewöhnlich schnell, weil die politischen und militärischen Eliten die Bedeutung freiwilliger Sanitätsorganisationen für die Führung eines modernen Massenkriegs erkannten. Das Internationale Komitee lud zu einer Konferenz vom 26. bis zum 29. Oktober 1863 ein, an der Vertreter von bereits 16 Staaten teilnahmen. Man einigte sich darauf, in jedem Land eine Gesellschaft zu gründen, die schon im Frieden freiwillige Pflegekräfte ausbilden und Bedarfsmittel bereithalten sollte; die Hilfskräfte sollten der militärischen Führung unterstehen und mit einem roten Kreuz auf weißer Armbinde gekennzeichnet werden. Die Konferenz empfahl schließlich, die Ambulanzen und Hospitäler, das Personal der Heeressanitätsdienste und die freiwilligen Helfer als neutral unter völkerrechtlichen Schutz zu stellen.Schon am 6. Juni 1864 beschloss der Schweizer Bundesrat in Absprache mit dem Internationalen Komitee, die Staaten zu einer Konferenz nach Genf einzuladen, um die »Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen« zu unterzeichnen. Unter den zwölf Staaten, die dazu bereit waren, befanden sich auch vier deutsche Staaten. Seither wacht das Internationale Komitee nicht nur über die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und den Schutz der Kriegsopfer, sondern versucht auch, diesen Schutz auszubauen. Vorwiegend aus den Kriegserfahrungen heraus formuliert das Internationale Komitee Vorschläge für effektivere Schutzbestimmungen, die es den Staaten vorlegt. So hatte sich im Ersten Weltkrieg die Fürsorge für die Kriegsgefangenen als zentrales Arbeitsfeld entwickelt. Das Internationale Komitee richtete in Genf einen Such- und Auskunftsdienst ein, für den rund 1 200 Personen meist ehrenamtlich tätig waren, sammelte Nachrichten und vermittelte Auskünfte. Delegierte des Internationalen Komitees besuchten Kriegsgefangenenlager, um die Einhaltung der Schutzbestimmungen für Kriegsgefangene nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 zu überprüfen. Im Jahre 1929 legte das Internationale Komitee einer nach Genf einberufenen Staatenkonferenz zwei Entwürfe vor: eine neue Fassung der Genfer Konvention von 1864 und eine umfangreiche Vereinbarung über den Schutz von Kriegsgefangenen.Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich das Internationale Komitee auf den Schutz der Zivilbevölkerung. Einen Durchbruch brachte die Zustimmung der Teilnehmerstaaten der Genfer Konferenz von 1949 zu dem Vorschlag, auch den Opfern innerstaatlicher bewaffneter Konflikte den Schutz des humanitären Völkerrechts zu gewähren. Schließlich versuchten die beiden Protokolle, die das Internationale Komitee ausgearbeitet hatte und die am 8. Juni 1977 von der Internationalen Genfer Konferenz verabschiedet wurden, die Praxis der Entkolonialisierungs- und nationalen Befreiungskriege durch flexiblere Regelungen, die etwa den Guerillakrieg und den Bevölkerungsschutz betreffen, aufzufangen. Grundsätzlich geht es dem humanitären Völkerrecht um das »Überleben der Menschen im Krieg und um den Schutz seiner Würde«, wie es der Völkerrechtler Hans-Peter Gasser formulierte.Rotes Kreuz und Roter Halbmond - Der weitere WegNach dem Ersten Weltkrieg wurde auf amerikanische Initiative als Zusammenschluss der nationalen Gesellschaften 1919 die Liga der Rotkreuzgesellschaften gegründet. Sie entwickelte ein »Friedensprogramm«, setzte sich für die öffentliche Gesundheitspflege, für die Bekämpfung von Epidemien und für die Propagierung der Gesundheitserziehung ein. Nach mehrjährigen Kompetenzstreitigkeiten einigten sich Internationales Komitee und Liga im Jahre 1929 auf die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes. In den Statuten wurde dem Internationalen Komitee seine Rolle als Schutz-, Vermittlungs- und Hilfsinstitution in bewaffneten Konflikten und als Förderer des humanitären Völkerrechts bestätigt; es war und ist zuständig für die Anerkennung neuer Gesellschaften. Der Liga wurde die Aufgabe übertragen, in Friedenszeiten die Hilfstätigkeit der nationalen Gesellschaften bei Katastrophen zu koordinieren.In den 1920er-Jahren wurden erstmals vier Prinzipien der Rotkreuzbewegung formuliert: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Universalität und Gleichheit. Um dieselbe Zeit gefährdeten faschistische und kommunistische Regime die innere und äußere Einheit des Roten Kreuzes. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine intensive Diskussion über die »Doktrin« ein, die ihren vorläufigen Abschluss in der 1965 proklamierten »Charta des Roten Kreuzes« fand. Die neuen fundamentalen Grundsätze der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität wurden 1986 bestätigt, als eine Gesamtrevision der Statuten unter der besonderen Berücksichtigung der Gesellschaften der islamischen Staaten auch zu einer Umbenennung in Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung führte. Neben den beiden Institutionen Internationales Komitee und Liga bestehen heute 175 nationale Gesellschaften mit 125 Millionen Mitgliedern und ehrenamtlich Tätigen sowie mit weltweit 285 000 hauptamtlich Beschäftigten. Als einzige internationale Organisation wurde die Bewegung zweimal mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet: 1945 für die umfassende Hilfstätigkeit während des Zweiten Weltkriegs und im Jahre 1963 aus Anlass ihres hundertjährigen Bestehens.Das größte Problem für die Arbeit des Internationalen Komitees heute ist die »Destrukturierung« der neuen Kriege auf dem Balkan und in Afrika, ist deren »chaotischer« Charakter: Sie sind mehr von ethnischen und ökonomischen als von politischen Motiven bestimmt; die Eskalation der Gewalt kennt kaum mehr Respekt vor den Regeln der Genfer Konventionen, zudem nicht vor den durch das Rote Kreuz oder den Roten Halbmond geschützten Delegierten, die bedroht, entführt oder auch ermordet werden. Da die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung auch nicht mehr die einzige Hilfsorganisation ist, wird es immer schwerer, von den Regierungen die nötigen Gelder zu erhalten und genügend Freiwillige zu finden.Ob und wie angesichts der neuen Kriege die politische Neutralität - Grundlage der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung - aufrechterhalten werden kann, ist schwierig zu beantworten; ungeklärt und problematisch bleibt auch das Verhältnis zur UNO in ihrer friedensichernden und friedenschaffenden Aufgabe.Prof. Dr. Dieter Riesenberger
Universal-Lexikon. 2012.